Das ganze Leben ist ein Rosenkohl
Leseprobe
Anfang Kapitel 1
Das fantasievolle Plätschern am marmornen Rande der imposanten Brücke ließ einige Vögel sich in edlem Lufttanze in die Höhe schwingen.
Nein, nein, überhaupt nicht gut.
Der trockene Wind schob das Wasser mit einer seltenen Wucht unter die Brücke, und das ungewohnte Rauschen verscheuchte einige Möwen.
Schon besser.
Ich hätte etwas zu Schreiben mitnehmen sollen.
Wobei ... wenn ich ehrlich war, dann wusste ich nicht einmal, ob das wirklich Möwen oder nur ein paar langweilige Tauben waren. Leben Möwen nicht nur am Meer?
Leise Stimmen flogen hinüber aus dem alten Café.
Leise Stimmen flogen hinüber aus dem antiken Café.
Dunklen Café?
Kleinen Café?
Wie war das Café?
Ich wusste es nicht.
Und ich hasste es, dass ich es nicht wusste. Ein echter, ein richtiger Schriftsteller hätte es gewusst. Ja, so ist das Café, das ist ein guter Satz, den schreibe ich auf. Das hätte er gesagt, denn ein richtiger Schriftsteller hätte natürlich auch ein Notizbuch dabei.
Aber so ist es immer, wenn ich in meinem Kopf beginne, Texte zu schreiben. Wenn ich versuche, Worte und Sätze zu finden wie in einer Geschichte, in einem Buch. Aber meist bin ich mit diesen Worten nicht zufrieden, weil ich nicht einmal weiß, ob sie eben gut oder schlecht sind.
Ich bin halt nur ein gewöhnlicher Physiklehrer und kein Schriftsteller.
Aber mein Weg zur Arbeit ist so schrecklich langweilig, so endlos und immer gleich, da ist es meist besser, dass ich mir poetische Sätze über die Brücke oder die verrosteten Straßenlaternen überlege, als nur stumpf auf den Boden zu starren.
An diesem Tag aber war es wohl genug. Ich war müde und schaute nur matt auf den Boden, auf die abgenutzten Pflastersteine.
... die zerschlissenen Pflastersteine?
... brüchigen Pflastersteine?
Verdammt.
Also blickte ich doch lieber nachdenklich zum anderen Ufer. Da gab es einen Friseur und aus irgendeinem Grund gleich zwei Apotheken. Hinter den Häusern ragte der uniforme Körper eines gläsernen Bankgebäudes in die Höhe und die Sonne, die sich dort in der nahtlosen Glasfront spiegelte, brannte mir plötzlich in den Augen und lenkte mich zum Glück von der Frage ab, ob ein Begriff wie ‚uniform‘ überhaupt passend war.
Früher hatte ich versucht, die Autos zu beschreiben, die sich hier neben den Menschen über die Brücke schoben, aber außer abgedroschenen Bildern einer stinkenden Blechlawine war mir nichts eingefallen. Dave hätte hier ohne Frage die Farben der Autos gezählt, aber das war mir jetzt eindeutig zu anstrengend.
Ein rotes.
Zwei graue.
Nein, nein.
Ich hatte vor langer Zeit beschlossen, keine Menschen mehr zu beschreiben, denn die waren meist schon längst an mir vorbei geeilt, bevor ich tatsächlich hätte entscheiden können, ob ich die blonden Haare des gebräunten Karriere-Yuppies mit einem Sandstrand im Abendlicht oder doch eher einem Haufen gekämmten Strohs vergleichen sollte.
Dann lieber Pflastersteine.
Langweilig, langweilig, langweilig.
Ich überlegte wieder, ob ich nicht ein Buch schreiben sollte, das ausschließlich das Wort "langweilig" enthielt, bis auf eine einzige Stelle, irgendwo mittendrin, an der "sehr langweilig" stehen würde.
Langweilig, langweilig, langweilig, langweilig, langweilig, langweilig, langweilig, sehr langweilig, langweilig, langweilig, langweilig, langweilig.
Ich hielt das für eine großartige Idee, war mir aber nicht sicher, ob irgendjemand anderes das auch so sehen würde.
Also ging ich einfach weiter. An diesem gewöhnlichen Tag. Wie immer. Mein Blick wechselte zwischen den zerfurchten Pflastersteinen und der eisigen Glasfront.
Bis plötzlich die Frau mit den schwarzen Haaren vorbeilief.
Seltsam, dass ich genau in diesem Moment aufschaute. Also eigentlich war es nicht wirklich seltsam. Es war nur reiner Zufall. Vermutlich. Wer weiß das schon?
Die Frau joggte über die Brücke und schlängelte sich leichtfüßig durch die übrigen Fußgänger. Überhaupt schien alles an ihr schwerelos zu sein. Die Arme und Beine, die im gemeinsamen Takt des Laufs hin und her schwangen, die langen, tiefschwarzen Haare, die im gleichen Rhythmus von einer Schulter zur anderen fielen, und selbst die dunklen Augen, die verträumt irgendwo vor sich ins Nichts zu schauen schienen. Ich bemerkte erstaunt, dass ich stehengeblieben war. Noch nie hatte ich ein so wundervolles Wesen gesehen, das wie auf Federn mit wunderbaren Bewegungen über die Erde zu gleiten schien, anmutig, graziös und …
„Verdammte Scheiße!“
Die Frau war stehengeblieben. Ihr Gesicht war mit einem Mal schmerzverzerrt und sie hielt sich das rechte Bein.
Was jetzt?
Sollte ich weitergehen?
Wollte ich weitergehen?
Konnte ich die Frau ansprechen? Man spricht nicht einfach fremde Menschen an, oder? Aber sie hatte ohne jede Frage Schmerzen und niemand sonst schien sich dafür zu interessieren. Sollte man jemandem, der Schmerzen hat, nicht helfen? Das sollte man doch.
Aber was könnte ich nur sagen?
"Kann ich ... also ist … ist alles in Ordnung?"
Mehr fiel mir nicht ein. Ich schlich vorsichtig ein paar Schritte auf sie zu. Vielleicht hatte sie mich nicht gehört? Hoffentlich hatte sie mich nicht gehört.
"Nein, es ist nichts in Ordnung. Ich habe einen Wadenkrampf. Einen verdammten … "
Sie biss schmerzverzerrt die Zähne zusammen und aus ihren fast geschlossenen Augen rannen einige Tränen.
… wie der Tropfen eines versiegenden Flusses.
Ruhe! Nicht jetzt!
Bezog sich ihre Wut auf mich? Nein, das schien abwegig. Ich war wohl kaum für ihre Krämpfe verantwortlich.
Aber vielleicht hätte ich sie einfach in Ruhe lassen sollen.
"Kann ich Ihnen helfen?"
Sie öffnete kurz die Augen und musterte mich, aber dann schienen die Schmerzen doch wichtiger zu sein als die Frage, wer da eigentlich gerade vor ihr stand.
„Sie könnten mir da zur Bank helfen. Diese Krämpfe dauern. Verdammt und immer. Ich muss mich setzen.“
Ich war völlig überfordert. Was erwartete sie jetzt von mir? Zur Bank helfen? Die Bank stand nur wenige Meter entfernt, aber konnte ich die Frau einfach so anfassen? Und wenn ja, wo?
Aber sie streckte bereits ihren rechten Arm aus und stützte sich auf meine Schulter. Vorsichtig und langsam wankten wir gemeinsam hinüber zu der alten Holzbank, die am Rand der Brücke stand.
Wir setzen uns und die Frau begann, ihre rechte Wade zu massieren, die Augen immer noch geschlossen.
Ich setzte mich vorsichtig in angemessenem Abstand neben sie: „Ich glaube, Sie müssen den Fuß ein wenig abspreizen, ich …“
„Nein! Das nützt nichts. Ich muss warten …“
Also warteten wir. Konnte ich einfach so bei ihr sitzen bleiben? Immerhin hatte ich meine Aufgabe erfüllt. Ich hatte ihr zur Bank geholfen. Was blieb nun noch?
Die Spannung schien langsam aus dem Körper der Frau zu weichen und sie atmete ruhiger und tiefer. Vorsichtig öffnete sie erneut die Augen und zum ersten Mal flog ein winziges Lächeln über ihren Mund.
„Danke, das war sehr nett.“
Ja, das war es wohl. Sehr nett. Gut gemacht!
„Kein Problem, dazu ist man ja da, also dazu, dass man hilft, also man sollte schon helfen, irgendwie …“
Was redete ich da?
Die Frau massierte weiter ihr Bein und hin und wieder zuckte noch ein kurzer Schmerz über ihr wundervolles Gesicht, aber jetzt musterte sie mich.
Oh nein, was hatte ich heute angezogen? Das grüne Hemd? Bitte nicht das grüne Hemd! Würde es auffallen, wenn ich jetzt an mir herabschauen würde? Warum nur wusste ich nicht, was ich heute angezogen hatte?
Schließlich lächelte sie und seufzte: "Wissen Sie, was ich manchmal glaube?"
„Nein, woher soll ich das wissen?“
Sie lachte: „Richtig, woher sollten Sie das wissen? Ich glaube, am siebten Tag hat Gott nicht geruht, sondern den Wadenkrampf erfunden.“
Hatte sie das tatsächlich gesagt? War diese Frau verrückt? Können schöne Menschen verrückt sein? Natürlich können schöne Menschen verrückt sein. Das Aussehen ist immerhin kein Abbild des geistigen Zustands. Aber gab es auch verrückte, schöne Joggerinnen?
Vermutlich.
„Am siebten Tag … den Wadenkrampf?“, hörte ich mich nur stottern.
Sie lachte laut, nur um sich direkt wieder ans Bein zu fassen und das Gesicht zusammenzukneifen.
„Also natürlich nicht nur Wadenkrämpfe. Einfach alles, was völlig unnötig und schlimm ist. Vielleicht war Gott langweilig? Wer weiß das schon? Ich meine, wenn ich innerhalb von sechs Tagen das gesamte Universum erschaffen hätte, dann wäre danach ein kompletter Tag, an dem ich einfach nichts mache, ziemlich öde, also würde ich mir überlegen, was ich sonst so anstellen könnte, was diesem Universum, das ich da gerade in die Welt gesetzt habe, noch so fehlt.“
Ein Universum in die Welt gesetzt? Offenbar war ich nicht der einzige, dem es schwerfiel, die richtigen Worte zu finden. Aber das war wohl kaum wichtig in diesem Moment. Wichtig war, dass ich erst jetzt merkte, dass ich ohne Unterbrechung an ihren schwarzen Augen hing.
Ihr Mund redete jedoch einfach weiter: "Gott war langweilig, aber es war schon alles da, alles, was irgendwie sinnvoll ist: die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, Wind, Sand, Sterne, einfach alles. Also hat er aus Langweile Dinge erfunden, die nicht sinnvoll sind, sondern nur verdammt sinnlos und nervig, wie eben Wadenkrämpfe. Oder Erdbeben. Oder Viren. Wer braucht schon Viren?“
„Ja, das sind nicht mal richtige Lebewesen.“
„Eben.“
„Oder Kratzer auf Langspielplatten.“
Jetzt stutzte die Frau: „Ja, vielleicht, auf jeden Fall sind das alles Dinge, die niemand braucht, die keinen Sinn ergeben, ich meine, sonst hat doch alles einen Sinn, auch wenn wir als Menschen das vielleicht nicht verstehen. Wenn jemand von einem Löwen aufgefressen wird, dann ist das ziemlich blöd für den armen Kerl, der gefressen wird, aber es hat einen Sinn, weil der Löwe ja schließlich auch etwas essen muss. Aber Wadenkrämpfe? Wer profitiert von Wadenkrämpfen?“
Jetzt musste ich doch nachdenken. War an dieser Theorie etwas dran?
Sie lächelte wieder: „Sie halten mich sicher für verrückt.“
"Neeeein."
Hatte das überzeugend geklungen?
Hoffentlich hatte es überzeugend geklungen.
„Ich habe da nur noch nie drüber nachgedacht. Muss denn alles einen Sinn haben?“
Ich hörte mich tief atmen. Ich konnte es nicht glauben, dass ich hier auf dieser Brücke saß und mit einer völlig unbekannten Frau über Gott, Sinn und Unsinn von Wadenkrämpfen diskutierte, während ich eigentlich auf dem Weg zur ...
„Oh nein, nein, ich muss zur Arbeit. Ich bin sicher viel zu spät.“
Die Frau lächelte: "Vielen Dank für Ihre Hilfe. Das war sehr nett."
Das hatte sie ja bereits gesagt.
„Ist denn wirklich alles wieder in Ordnung?“
„Ich kenne das. Es mag sinnlos sein, aber ich kenne es zumindest. Ich werde jetzt frustriert nach Hause humpeln, wie immer.“
„Fein, also ich würde, also wenn noch etwas wäre, wenn Sie noch Hilfe bräuchten, wobei ich eigentlich los muss, zur Arbeit, aber ich würde natürlich, nein, das würde ich vermutlich nicht, denn ich bekomme echt Ärger, wenn ich zu spät komme. Also … auf …Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“
Wiedersehen? Das wäre sicher nett, oder?
Jetzt war ich es, der über die Brücke joggte und bei jedem Meter überlegte, ob ich nicht doch noch einmal zurück zur Bank schauen sollte, zu dieser wundervollen Frau mit diesen wundervollen Augen. Aber es war spät, daher bog ich lieber eilig um die nächste Ecke, vorbei an dem alten, antiken, heruntergekommenen Café.