SUFO

und der Stern, der nicht da war

Zielgruppe: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
Seiten: ca. 340

Dies ist die Geschichte von SUFO – den Superforschern. Eigentlich ein reichlich peinlicher Name, aber das spielt keine Rolle für Gerald, B (eigentlich Beatrice) und Tomm (mit zwei „m“), drei zwölfjährige Kinder. Jeder von ihnen hat seine eigene, gar nicht so einfache Geschichte: Geralds Eltern leben getrennt, Bs erfolgreiche Eltern interessieren sich nicht für sie und Tomms Vater schlägt seinen Sohn. Aber jetzt gibt es SUFO. Sie wollen forschen und entdecken, wie große Wissenschaftler: den Mond, die Planeten, das Weltall, am besten einfach alles – damit alles endlich einen Sinn ergibt. Und so forschen sie und entdecken: einen Stern, den sonst niemand sieht. Einen Stern, der nicht da sein sollte. Der blinkt. Immer schneller. Immer größer.

Dies ist keine Geschichte über Kinder, die schlauer und vernünftiger sind als alle Erwachsenen.
Dies ist keine Geschichte über Kinder, die sich gegenseitig ihr Herz ausschütten.
Dies ist keine Geschichte über Kinder, die ihre getrennten Eltern wieder zusammenführen oder sich über ihren schlagenden Vater erheben.
Dies ist keine Geschichte über grüne Außerirdische in bunten Raumschiffen.

Dies ist eine Geschichte von drei Kindern, die versuchen, sich in ihrer Welt zurechtzufinden.


Dafür gibt es SUFO, die Superforscher. Auch wenn sie am Ende vielleicht nur sich selbst erforscht haben. Und die Menschen, die ihnen wichtig sind.

Leseprobe

Anfang Kapitel 7

Tomm saß auf dem Boden in seinem Zimmer. Müde und schräg an sein Bett gelehnt. Wenn er auf dem Boden saß, dann bedeutete das, dass es einfach zu viel gewesen war, dann hatte er keine Kraft mehr, um auch noch seinen kleinen Bruder zu schlagen oder auch nur auf die alte Matratze zu kriechen. Keine Kraft mehr, Svens Bauklötze oder Basteleien zu zertreten, einfach nur, um sich selbst nicht so schrecklich winzig zu fühlen.

Dann saß er auf dem Boden und begann, die Quadrate in dem Muster des alten Teppichs zu zählen. Ein Quadrat. Zwei Quadrate. Nur nicht mehr an gerade eben denken. Drei Quadrate. Wenn er nicht daran dachte, dann würde es vorbeigehen. Schon morgen könnte der Schalter wieder umgestellt sein. Dann wäre alles besser. Vier Quadrate. Sein linker Arm schmerzte. Er zog den langen Pullover ein wenig nach oben und strich sich über den tiefblauen Fleck. Warum musste es immer der linke Arm sein? Natürlich manchmal auch der Rücken. Oder die Beine. Aber nie der rechte Arm. Immer der linke. Fünf Quadrate. War es in den letzten Tagen wirklich immer heißer geworden? Tomm hasste es, diesen langen Pullover tragen zu müssen, aber wenn er die Flecken nicht sah, dann waren sie auch nicht da. So einfach war das. Schnell schob er den Ärmel wieder hinunter. Sechs. Sieben. Acht. Wie viele Quadrate es wohl insgesamt waren? Jedes Mal fragte er sich das, jedes Mal überlegte er, dass es sicher eine einfache Formel gäbe, das auszurechnen, aber auch dazu fehlte ihm dann die Kraft. Die reichte noch fürs Zählen, aber nicht fürs Rechnen.

Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich langsam und wieder schlich sein kleiner Bruder vorsichtig hindurch und setzte sich schweigend neben ihn auf den Boden. Tomm wollte das nicht. Er musste doch die Quadrate zählen.

Neun Quadrate. Oder waren es schon zehn? Dieser verdammte Sven hatte ihn wieder mal gestört. Jetzt wusste Tomm nicht mehr, wie viele Quadrate es gewesen waren.

„Warum machen wir immer alles falsch?“, hörte er Sven neben sich.

Tomm zuckte nur mit den Schultern. Er wusste es nicht. Machten sie immer alles falsch? Waren sie selbst schuld? Natürlich. Irgendwie. Wer auch sonst? Aber er verstand das genauso wenig wie die Sache mit dem linken Arm. Oder die Frage, wie viele Quadrate da auf dem Teppich waren.

„Habt ihr den Mond noch einmal gesehen?“, fragte Sven plötzlich, und Tomm brauchte einen Moment, bis er die Frage verstand.

„Den Mond?“

„Mit deinen Freunden. Mit dem Fernrohr.“

Tomm seufzte kurz, als wolle er die gezählten Quadrate aus seinem Kopf verscheuchen.

„Nein, wir haben den Mond nicht mehr gesehen. Aber ein Licht. Ein blinkendes Licht. Da, wo kein Licht sein sollte.“

Sven blickte ihn kritisch an. Er schien nicht zu verstehen.

Tomm überlegte, wie er seinem Bruder all das erklären konnte, was passiert war.

„Also: Da ist ein Licht. Wie ein Stern. Aber es ist kein Stern. Nur wir können es durch das Fernrohr sehen. Und das Licht blinkt. An und aus.“

„Wie ein Morse-Code?“

Tomm stutzte. Woher wusste sein kleiner Bruder etwas über den Morse-Code?

„Ja, also nein, eher wie eine Nachricht, wie eine Frage. Es sind Zahlen. Und es wird schneller.“

„Die Zahlen werden schneller?“

„Nein, nicht die Zahlen, das Blinken. Die Abstände. Es sind Quadratzahlen und das Blinken wartet auf eine Antwort. Die Antwort ist sechzehn.“

Tomm merkte, wie völlig verrückt das alles erscheinen musste und wie wenig er es erklären konnte.

Plötzlich lachte Tomm laut auf: „Natürlich! So kann ich es ganz leicht ausrechnen.“

Sven verstand nun gar nichts mehr: „Was?“

„Wie viele Quadrate auf dem Teppich sind. Mit Quadratzahlen! So einfach ist.“

Tomm grinste noch kurz, aber eigentlich wollte er es gar nicht mehr wissen. Er fragte sich, ob es tatsächlich eine so gute Idee wäre, ganz genau zu berechnen, wie viele Quadrate da im Muster des Teppichs waren. Was würde er dann beim nächsten Mal zählen, wenn es wieder einmal zu viel sein würde? Er würde dann ja schon wissen, wie viele Quadrate im Teppich waren.

„Wir brauchen jetzt ein Licht. Ein großes Licht. Ein helles Licht. Wir müssen antworten. Aber keiner weiß, wie wir das machen sollen. Das ist das Problem. Verstehst du das?“

Sven verstand nicht.

Wie sollte er auch?

„Ich möchte mitmachen“, flüsterte er leise.

„Nein!“, schrie Tomm, als er hätte er mit einem Mal etwas furchtbar Heißes angefasst. Er sprang auf und warf sich auf sein Bett. Wütend blickte er von dort auf Sven herab.

Das dort draußen war nicht hier. Hier waren Schalter, blaue Flecken am Arm, kalte Pizzareste und dreckige Fußböden. Und hier war Sven. Aber das dort draußen war etwas anderes. Das durfte er nicht vermischen. Tomm wusste nicht, was passieren würde, wenn es vermischt würde. Er wollte das nicht. Nein, nein. Er hatte etwas gefunden, das nicht hier war und er durfte nichts von hier mitnehmen.

Ihn überkam eine große Lust, seinen Bruder auf den rechten Arm zu schlagen, mit aller Kraft, die ihm heute geblieben war – einfach um zu sehen, was passieren würde, wenn jemand auf den rechten Arm geschlagen wurde. Aber dann schloss er nur die Augen und versuchte sich daran zu erinnern, wie viele Quadrate er gerade gezählt hatte.

So saßen sie eine Weile da.

Tomm auf dem Bett und Sven davor. Es war völlig ruhig. Ihre Mutter lag im Bett. Ihr Vater war nicht mehr da.

Tomm hatte die Arme um die Beine geschlungen. So wie damals, als er in der Scheune zum ersten Mal Gerald und B getroffen hatte.

Warum hatten sie ihn eigentlich mitmachen lassen? Er hätte sich selbst nicht mitmachen lassen. Er hätte diesen pummeligen Jungen, der da in ihrer Scheune saß, einfach rausgeworfen. Er hätte nichts vermischen wollen. Gerald und B waren Freunde gewesen, schon immer, Tomm gehörte nicht dazu. Er war draußen.

„Du kennst dich doch mit Lichtern aus, oder? Mit Kabeln und Strom und so?“, flüsterte er plötzlich, ohne die Augen zu öffnen.

Sven nickte, was Tomm nicht sehen konnte.

„Kannst du?“, fragte Tomm daher noch einmal.

„Ja.“

Sven redet nicht viel.

Vielleicht nur, wenn er Angst hat?

„Auch wenn es große Lichter sein müssen und große Kabel mit viel Strom?“

„Vielleicht.“

Es waren zehn Quadrate gewesen.

Tomm öffnete die Augen, atmete einmal schwer und versuchte, seinen Bruder anzulächeln.

„Das reicht!“

Leseprobe

Anfang des Buchs

Die Scheune war perfekt.

Sie stand am Rand des Waldes, der eigentlich ein Forst war, aber von allen nur „Der Wald“ genannt wurde. Sie hatte den Rodins gehört, einer Familie, die hier in der Nähe einen Bauernhof betrieben und jederzeit größten Wert darauf gelegt hatte, dass man ihren Namen französisch aussprach, also „Rodöööns“ – bis eines Tages im alten Rathaus eine Ahnentafel aufgetaucht war und es jedem, den es interessierte (und das waren nicht wenige gewesen) unmissverständlich klar gemacht hatte, dass die Rodins keinesfalls aus Frankreich, sondern lediglich aus einem anderen, noch kleineren Dorf stammten, nur wenige Kilometer entfernt, und natürlich keinesfalls „Rodöööns“, sondern ganz einfach „Rodinnns“ ausgesprochen wurden und ihr Name ursprünglich sogar einmal lediglich „Rodings“ gelautet hatte. Die Rodins waren dann kurze Zeit später weggezogen, viele hatten vermutet, dass es daran gelegen hatte, dass der Boden hier nicht mehr viel hergab, aber im Stillen wussten alle, dass es wegen des Namens gewesen war. Der Name, der heute noch kaum lesbar in kantigen Buchstaben über dem Eingang des blassen Gebäudes hing.

Die Rodins hatten die Scheune errichtet, um Dinge zu lagern. Zumindest vermuteten das damals alle, denn niemand konnte sich vorstellen, was eine Scheune hier am Waldrand zu suchen hatte, zumal sie nicht sonderlich groß war. Es war keine dieser gigantischen Hallen, in denen man auch ein ganzes Flugzeug hätte unterbringen können, sondern eher eine gedrungene, hölzerne Garage, in der schon ein kleiner Traktor die Luft hätte anhalten müssen, um hineinzupassen, und es hatte sicher seit einigen Jahren niemand mehr einen neugierigen Blick oder gar einen Fuß in die Scheune gesetzt. In ihrem Inneren befanden sich nur noch Reste von Dingen, eben den Dingen, die die Rodins damals hier wohl gelagert hatten. Oder eigentlich nicht die Dinge selbst, sondern die Dinge, in und auf denen andere Dinge gelagert worden waren: Ein paar hölzerne Schränke, krumme Regale und vor allem ein schmuckloser, dürrer, aber ausladender Tisch, der unübersehbar im Zentrum des einzigen Raums stand.

 

„Perfekt!“ Gerald grinste, rückte seine kantige Brille zurecht und hielt beide Hände beschwörend in die Höhe. Gerald war zwölf Jahre alt, lebte seit seiner Geburt in dem kleinen Dorf und hatte schon viele Geschichten über die alte Rodin-Scheune gehört, hatte es aber noch nie gewagt, sie zu betreten. Bis jetzt. Er verhakte seine Daumen stolz in den Trägern seiner braunen Latzhose. Als er seinem Vater davon erzählt hatte, dass sie die alte (und dreckige) Scheune auskundschaften wollten, hatte dieser ihn gezwungen, dieses alte (und über alle Maßen hässliche) Kleidungsstück anzuziehen. Was Gerald aber herzlich egal war.

„Perfekt?“ Neben Gerald stand Beatrice. Sie war ebenfalls zwölf Jahre alt, jedoch mindestens einen halben Kopf größer als Gerald und trug Schwarz. Alles war schwarz. Die schmale Hose war schwarz, der lange Mantel war schwarz, die Schuhe waren schwarz und auch ihre Haare waren schwarz.

Beatrice hasste ihren Namen. Niemand, der nicht ihre schwarzen Ringe am Arm oder im Bauch spüren wollte, nannte sie so. Früher hatten ihre Eltern ihren Namen einfach zu Bea verkürzt, aber das hasste sie jetzt noch mehr. Daher nannte sie jetzt jeder einfach nur noch B.

„Natürlich müssen wir noch einiges herrichten, das darf nicht so bleiben, das ist ganz logisch, aber es wird fantastisch, exzellent, unübertrefflich. Also, wenn alles einmal vollendet ist, gar kein Zweifel. Dort drüben können wir die Karten aufhängen, da ist viel Platz, der Schrank muss weg, der fällt fast schon auseinander, aber der Tisch hier…“ Gerald strich mit seinen Fingern behutsam über die Oberfläche, als wäre diese aus feinstem Gold, „dieser Tisch ist perfekt.“

„Perfekt für was?“ B blickte sich ungeduldig um. Viel war nicht zu sehen und ihrer Meinung nach hätte man hier ALLES, und nicht nur den einzelnen Schrank, schleunigst zur nächsten Müllhalde bringen müssen, die gesamte Scheune an sich und in Gänze eingeschlossen.

Gerald drehte sich zu ihr um und hob erneut feierlich die Hände: „SUFO!“

B und Gerald kannten sich von der Schule. Sie besuchten dieselbe Klasse, sprachen dort aber kein Wort miteinander. Sie waren in dem Alter, in der Jungen oder Mädchen immer noch „doof“ sind, aber sie begriffen auch langsam, dass sich das recht bald ändern würde und aus beiden Gründen gingen sie sich möglichst aus dem Weg. Selbst wenn Gerald und B gemeinsam an einer der abgelegenen, einsamen Bushaltestellen standen, die hier auf dem Land meist nur aus einem verrosteten Mast mit einem schrägen Haltestellenschild bestanden, wechselten sie kein Wort und vermieden jeden Blickkontakt.

Dabei kannten sie sich bereits seit dem Kindergarten. Das war nicht schwierig, denn in dem gesamten Dorf gab es lediglich einen solchen und alle Kinder wurden dort irgendwann untergebracht. Aber Gerald und B, die damals noch Bea hieß, freundeten sich ziemlich bald an. Damals war noch vieles einfacher gewesen. Es war gleichgültig, ob jemand ein Junge oder Mädchen war, sondern nur, ob er die Geschichten mit Rittern, Drachen, Raumfahrern und Atombomben richtig mitspielen konnte. B und Gerald konnten spielen. Sie verstanden, dass die Atombombe auf den Drachen fallen und dabei aber auch den schrecklich langweiligen Ritter mit ins Verderben reißen musste, so dass der Raumfahrer die Burg des Ritters übernehmen und daraus eine Festung mit Lasergewehren errichten konnte.

Niemand außer ihnen hatte das jemals richtig begriffen, und so blieben Gerald und B meist allein und somit ganz zwangsläufig beste Freunde. Auch wenn sich später ihre Wege in vielen Bereichen trennten. Wenn man sie heute gemeinsam sah, so konnte man sich kaum vorstellen, dass sie eigentlich beste Freunde waren: Gerald mit breitem Grinsen in alter Latzhose, B mit düsterer Miene in finsterem Mantel. Sie waren auch ihre einzigen Freunde. Vielleicht lag es daran. B hatte es irgendwann nicht mehr erwarten können, erwachsen zu werden, nur um dann frustriert zu erkennen, dass das Leben dort auch nur grau und trist schien. Sie begann, traurige Musik zu hören und sich in Schwarz zu kleiden. Wären ihre Eltern öfters zu Hause, sie würden sich wundern, warum ihre Tochter mit gerade einmal zwölf Jahren bereits in tiefem Weltschmerz versunken war – etwas, das eigentlich in die Welt älterer Teenager gehörte. Aber ihre Eltern waren meist nicht zu Hause und daher interessierte es niemanden wirklich, was in B vor sich ging, was wiederum exakt Bs Erwartung erfüllte, dass sich sowieso niemand um sie kümmerte und die gesamte Welt schlecht, traurig und dem Untergang geweiht war.

Auch Gerald interessierte es nicht. Ihm war B sicher nicht gleichgültig. Aber Gerald dachte einfach nicht so. Würde man ihn heute, jetzt fragen, welche Farbe Bs Kleidung hätte, er würde es nicht wissen.

Für ihn war B so etwas wie eine große Schwester, jemand, der immer da gewesen war, ohne dass er sich je gefragt hatte, warum eigentlich. Gerald lebte „außen“: Er schien nur aus Augen zu bestehen, die sehen, aufnehmen und betrachten. Zu dumm, dass er schrecklich kurzsichtig und gezwungen war, eine dicke Brille zu tragen. Warum jemand bei ihm war, warum jemand schwarze Kleidung trug, warum es vollkommen hoffnungslos altmodisch war, als Zwölfjähriger eine Latzhose zu tragen – all das interessierte ihn nicht. Es war nicht so, dass er sich dieser Problematik bewusst war und sie tapfer ignorierte, es kam ihm schlicht nicht in den Sinn, dass dies relevante Themen sein könnten, mit der sich ein Junge in seinem Alter auseinandersetzen sollte.

Geralds Vorbild war Max Planck. Der Physiker. Der Erfinder der Quantenphysik, wie Gerald nicht müde wurde zu erklären, ohne exakt zu wissen, was damit eigentlich gemeint war. Es klang wichtig. Also war es wichtig! Schließlich konnte jeder Albert Einstein als Vorbild haben. Das war langweilig und vorhersehbar.

Geralds Vater war Lehrer und seine Mutter sogar Professorin. Vielleicht lag es daran, auch wenn sie nie mit ihm über so etwas reden würden. Aber Gerald wusste, dass seine Eltern klug waren, dass sie alles wussten und er würde auch alles wissen, wie Max Planck, der Erfinder der Quantenphysik.

 

„Gerald!“ B griff ihrem Freund an die Schulter, „da …“

Sie wies in die hinterste Ecke der Scheune.

Da saß jemand. Ein Junge. Er schien sie die ganze Zeit bereits schweigend, mit weit aufgerissenen Augen beobachtet zu haben. Er kauerte neben einem der letzten Schränke auf einem unkenntlichen Getreidesack. Er steckte in einem grüngrauen Pullover, der ihm viel zu groß war und dessen schlabbernden Ärmel er wie zum Schutz um seine Knie geschlungen hatte.

„Ah“, sagte Gerald nur. Er war sich nicht sicher, ob er eher überrascht oder wütend sein sollte, dass dieser Moment so unerwartet gestört worden war.

Die drei Kinder starrten sich schweigend an, als erwarte jede Seite, dass die jeweils andere zuerst das Wort ergreifen würde. Schließlich lächelte B ein wenig und ging auf den Jungen zu: „Wir, nun ja, wir wussten nicht, dass jemand hier ist. Wir dachten, die alte Scheune sei leer.“

„Ich bin nur manchmal hier.“ Die Stimme des fremden Jungen war leise und etwas kratzig.

„Ah“, sagte Gerald erneut. Er überlegte, was dies für seine Pläne bedeuten würde.

Dann wieder kurz Stille.

„Dir gehört die Scheune also nicht?“, fragte Gerald schließlich vorsichtig.

Der Junge zog fragend die Augen zusammen. „Gehört? Mir? Die Scheune?“

B schüttelte den Kopf und seufzte: „Also ich bin B und das hier ist Gerald. Und Du bist … ?“

„Be?“

„B, wie der Buchstabe.“

„Eigentlich Beatrice“, ergänzte Gerald und bereute es im selben Augenblick.

„Aber niemand nennt mich so, danke schön, Gerald!“ Sie stupste ihn an die Schulter, „jeder nennt mich nur B, einfach B, wie der Buchstabe. Aber es gibt wirklich Wichtigeres.“

Der Junge dachte nach und zog für einen kurzen Moment die Möglichkeit in Erwägung, dass hier zwei Verrückte vor ihm standen.

„Mein Name ist Tomm“, sagte er schließlich und stand langsam auf. Er war nicht viel größer als Gerald, aber dafür etwas pummelig, was auch der lange Pullover nicht verbergen konnte. „Tomm mit zwei ‚m‘.“

„Ah“, sagte Gerald zum dritten Mal. Er hatte sich nie über Bs seltsamen Namen gewundert, aber ein Tomm mit zwei ‚m‘?

„Ist das eine Abkürzung für irgendwas?“

„Ja“, sagte Tomm nur, aber nicht mehr. „Was sucht ihr hier?“

Gerald schien plötzlich zu erwachen. Seine Augen weiteten sich und er hob erneute beschwörend seine Arme.

„Wir wollen diese Scheune in Besitz nehmen!“

„In Besitz?“, fragte Tomm.

„In Besitz?“, fragte B.

„Genau. In Besitz. Sie gehört niemandem mehr, jetzt gehört sie uns.“

„Ich habe gehört, sie sei verflucht.“ Tomm nickte wissend.

„Verflucht? Unsinn.“ Gerald schüttelte ungläubig den Kopf.

„Hat sie nicht damals den Rodins gehört?“ B versuchte sich zu erinnern. Sie hatte sich keine großen Gedanken gemacht, als Gerald ihr erklärt hatte, dass sie heute die alte Scheune am Waldrand aufsuchen würden. Die Scheune war schon immer da gewesen, zumindest, solange sie zurückdenken konnte. Sie hätte sich auch keine Gedanken über die Bäume oder die Straße gemacht. Sie waren einfach da. Aber jetzt versuchte sie sich zu erinnern, was sie über dieses alte Gebäude wusste.

„Genau!“ Tomm flüsterte verschwörerisch. „Man sagt, sie hätten damals hier Dinge versteckt. Dinge, die niemand sehen sollte. Daher die Scheune hier am Waldrand. Warum sollte sie sonst hier stehen? Nicht wahr? Niemand weiß, was das für ‚Dinge‘ waren. Wofür wurde der Tisch hier genutzt? Warum braucht man hier so einen langen Tisch? Ein Tisch, auf dem ein ganzer Mensch Platz hätte. Ein ganzer Mensch!“ Er nickte geheimnisvoll mit weiten Augen.

Gerald und B blickten sich um, als würden sie die Scheune gerade zum ersten Mal sehen.

Dann brach Tomm plötzlich in ein lautes Lachen aus.

„Ihr solltet euch sehen. Alles Unsinn. Ich habe keine Ahnung, was die Rodins hier gemacht haben. Vermutlich haben sie Säcke voll Kartoffeln hier gelagert.“

„Haha, ich lache mich kaputt“, seufzte Gerald und schüttelte den Kopf.

„Ihr wollt also diese Scheune in Besitz nehmen? Warum?“

Sie standen nun zu dritt um den schmucklosen Tisch herum. Gerald holte tief Luft, er versuchte, wieder in die richtige Stimmung zu kommen.

„SUFO!“

„SUFO?“, fragte Tomm. B hatte diese Frage ja bereits einmal gestellt und fragte sich langsam, was sie hier eigentlich verloren hatte.

Gerald blickte unsicher zu Tomm. Er war sich nicht sicher, ob er jemand Fremden in diesem Moment um sich haben wollte. Aber welche Wahl hatte er schon? Tomm schien nicht wieder verschwinden zu wollen.

„Die Super-Forscher!“ Gerald stemmte die Hände stolz in die Hüfte und blickte zwischen Tomm und B hin und her.

„Die Super-Forscher? Ist das dein Ernst?“ B hatte schon viele verrückte Ideen von Gerald erlebt, aber selbst ihr erschien dies doch arg seltsam. „SUFO? Klingt eher wie SOFA.“

„Quatsch!“ Gerald ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wenn schon wie ‚UFO‘ und Ufos sind ohne Frage außergewöhnlich, außerdem spielt es keine Rolle, wie es klingt, es ist wichtig, was es ist, die Super-Forscher: Wir werden forschen, hier werden wir entdecken, wir werden neue Dinge erkunden, die Welt auskundschaften! Hier! In dieser Scheune! Perfekt!“

B schaute sich skeptisch um. Sie war sich nicht sicher, was verrückter war, die Idee oder diese Scheune. Dann fiel ihr Blick auf Tomm, der mit verschränkten Armen und fragendem Blick auf der anderen Seite des langen Tisches stand.

„Was…“ B stockte, „ist mit ihm?“

„Mit ihm?“

„Tomm mit zwei m?“

„Ich bin natürlich dabei!“, Tomm grinste, als sei das alles selbstverständlich und allein die Frage absurd.

Gerald überlegte. In seiner Fantasie hatte er immer nur B und sich selbst gesehen. Aber was spielte das für eine Rolle? Max Planck war auch nicht allein gewesen. Nicht immer. Es brauchte eine große Gemeinschaft großer Forscher für große Entdeckungen. Und es war ja wohl klar: Sollten sie eines Tages einen neuen Planeten oder ein unbekanntes Tier entdecken, dann würde es Geralds Namen tragen – gleichgültig, wie viele andere dabei gewesen waren. ‚Gerald, der neue Planet im Sonnensystem‘, das klang großartig. Es würde auf allen Titelblättern aller Zeitschriften ...

„Gerald?“, B weckte ihn aus seinem Tagtraum.

„Ich bin mir nicht sicher. Da könnte ja jeder einfach so daherkommen. Was kannst du denn? Welche Qua… Quafli…“

„Qualifikation?“, ergänzte B.

„Genau, welche Qualifikation kannst du denn so vorweisen?“

Tomm überlegte und strich sich nachdenklich über den kugeligen Bauch.

„Welche Qualifikationen könnt IHR denn vorweisen?“, fragte er schließlich.

„Ha!“ Gerald schüttelte nur ungläubig den Kopf bei so einer albernen Frage. „Welche Qualifikationen WIR haben? Also …“, er stockte und er ärgerte sich sogleich darüber, dass er stockte. Es war ja wohl klar, dass B und er für SUFO qualifiziert waren.

„Ich weiß alles über Max Planck.“ Gerald nickte sich selbst zu. „Jeder kann Albert Einstein bewundern, aber wer kennt schon Max Planck? Den Erfinder der Quantenphysik.“ Er sprach Quantenphysik ganz langsam aus.

„Was ist Quantenphysik?“, fragte Tomm.

„Ha, er fragt, was Quantenphysik ist. Natürlich die Physik der Quanten, das weiß doch jeder, wenn man das nicht weiß, dann hat man bei SUFO nichts zu suchen, soviel ist wohl klar, das sollte man schon wissen, was für eine dümmliche Frage.“

Es blieb für einen Moment still und die drei Kinder blickten sich an. Niemand schien so recht zu wissen, wie es weitergehen sollte.

„Also ich habe eigentlich keine Qualifikation“, gab B schließlich zu. „Bis vor wenigen Minuten wusste ich nicht mal, dass wir überhaupt etwas erforschen wollen. Aber egal ... es ist eh gleichgültig, was ich mache, bis alles zum Teufel geht.“ Sie spuckte abfällig auf den Boden. „Aber ich bin dabei! In einer alten Scheune abzuhängen und Dinge zu erforschen, ist nicht schlecht. Das vertreibt die Zeit.“

Wieder Schweigen.

„So richtige Qualifikationen habt ihr also auch nicht, ihr …“, fing Tomm an, wurde aber dann von Gerald unterbrochen: „Also gut, also gut, du bist dabei! Wir werden sicher schon eine Verwendung für dich finden.“

„Eine Verwendung? Wie nett.“

„Aber: Der neue Planet wird nach mit benannt, soviel muss klar sein!“

B und Tomm starrten Gerald nur ungläubig an.

„Wie auch immer.“ Gerald erhob wieder feierlich beide Hände. „Somit sei es beschlossen, Freunde des Wissens: Dies markiert die Gründung von SUFO, den Superforschern!“

Leider gab es kein Orchester, das in diesem Moment einen passenden Tusch hätte spielen können.

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